Von der Ausrüstung her wähnt man Oliver Schmid eher auf dem Weg zur Ostwand des Watzmann denn zu seinem Stückle in Diegelsberg. Um Hüfte und Beine trägt er einen breiten Klettergurt bestückt mit Karabinerhaken und Seilen unterschiedlicher Länge. Schmid hat Gebirgsklettererfahrung, dass er jetzt den ‚Klettergarten‘ wörtlich nimmt hat damit zu tun, dass er sein Hobby zum Teil seines Berufs machte: der studierte Forstwirt ist Chef von ‚Treelogie‘, dem von ihm gegründeten Betrieb für Baumpflege. Mit wenigen Handgriffen sichert er sich mit einem kurzen Seil am Stamm eines hohen alten Apfelbaums und beginnt emporzusteigen. In der Krone des Maunzapfels angekommen befestigt er ein langes Seil, dass ihm Bewegungsfreiheit für seine Arbeit gibt. Bei diesem Baum wurden die oberen Zweige ausgeschnitten, damit er nicht kronenlastig wurde.
Schmid hat sich nicht nur im Studium sondern auch während seiner Ausbildung zum Fachwart und Obstbaumpfleger mit allen Aspekten des Baumschnitts befasst. DEN richtigen Schnitt gibt es nicht, wie man schneidet hängt davon ab, was man erreichen will erklärt er mir. Beim Ertragsschnitt im Obstbau geht es darum, dass der Baum möglichst viel Früchte entsprechender Größe produziert.
Bei Bäumen an Straßen oder in Parks stehen Versicherungsfragen im Vordergrund: Ein Ast, der die Sicherheit von Passanten, Stromleitungen oder eines Hausdachs gefährden könnte, wird entfernt. Im Gegensatz dazu steht der Erhaltungsschnitt. Er dient dem Naturschutz, und die Gesundheit des Baumes steht im Vordergrund.
Die Faustregel für Schnitt-Anfänger lautet so viel Zeit auf Beobachtung des Baumes verwenden wie danach auf den Schnitt, sagt Schmid. Einem professionellen Baumpfleger kommen natürlich Wissen und Erfahrung zugute, aber auch Schmid beginnt seine Arbeit zunächst damit innezuhalten und den Baum an seinem Standort und in seiner Umgebung wahrzunehmen. Hat der Baum eine Südlage? Steht er am Hang oder in einem Tal? Fehlt ihm Wasser oder hat er ‚nasse Füße‘? Um welche Baumart/Unterlage geht es? Jede hat ihre eigene Wuchsform, die mehr oder weniger geschnitten werden muss. ‚Mein Ziel ist es, das natürliche Wachstum des Baumes nachzuempfinden und durch Schnitt dem Baum zu helfen, sein Wesen optimal auszudrücken‘, sagt Schmid.
Natürlich könnte man Bäume auch einfach ‚wild‘ wachsen lassen, aber oft ‚vergreisen sie dann früher‘, sagt Schmid, ‚ein bisschen Hilfe brauchen sie schon‘. Ertrag- und Erhaltungsschnitt für die Baumgesundheit müssen gegeneinander abgewogen werden. Die Krone auszulichten sorgt für gute Belüftung und hilft gegen Wasserstress, kann aber auch zu Sonnenbrand bei den Früchten führen.
Und so, wie es sich ein Friseur mit einem Einheitshaarschnitt schnell mit der Kundschaft verderben würde, haben auch Apfelbäume ihre Präferenzen. Bittenfelder Sämling haben eine Krone mit langen ausladenden Ästen mit viel Ertrag. Damit die Äste unter der Last nicht brechen sollte die Krone kompakt gehalten werden. Jakob Fischer bildet lange ‚Schleppen‘ mit vielen Früchten, die dünnen Zweige hängen bis zum Boden. Schmid schneidet sie so, dass sie nicht aussehen wie eine Trauerweide und eine Unternutzung möglich bleibt: Schafen machen die Zweige nichts aus, aber wenn gemäht wird muss der Boden frei sein. Zu den pflegeleichtesten Sorten gehört der Brettacher mit seinen riesigen Äpfeln. Die Bäume sind jedoch sehr stabil, die Äste können die großen Früchte tragen und Schnitt ist kaum notwendig. ‚Bei allen Bäumen muss man die natürliche, genetisch bedingte Wuchshöhe beachten‘, sagt Schmid. ‚Man kann einen Baum nicht einfach kappen, wenn man meint, er sei hoch genug und eine größere Höhe wäre unpraktisch‘. Der Baum treibe sofort Wasserschösslinge um die verlorene Höhe zu kompensieren, sagt Schmid und ‚dann hat man eine ‚Besenwirtschaft‘‘.
Selbst die Jahreszeit in der geschnitten wird spielt eine Rolle, denn auch die Wurzeln reagieren. Viele Landwirte schneiden im Winter, weil das die Jahreszeit ist, in der sie Zeit dafür finden. Aber im Winter sind die Nährstoffe im Boden eingelagert, die Bäume ruhen und kompensieren den Schnitt, in dem sie im nächsten Jahr besonders kräftig austreiben. Beim Sommerschnitt ist es genau umgekehrt: Die Nährstoffe sind im oberen, überirdischen Teil des Baumes, und durch den Schnitt nimmt man ihm Kraft. ‚Im nächsten Jahr treibt er weniger aus, der Baum wird ruhiger‘, sagt Schmid, der Mai und Juni für die beste Zeit zum Schneiden hält, weil die Schnittstellen gut verheilen. Wie eine Wunde beim Menschen ist auch die Schnittstelle an einem Baum eine Verletzung, in die Krankheitskeime – Bakterien und Pilzsporen – eindringen können solange sie offen ist.
Oliver Schmid ist mit Streuobst aufgewachsen und hat inzwischen drei biozertifizierte Stückle, insgesamt etwa 2,5 ha mit ca. 240 Bäumen. Die älteste Fläche bewirtschaftete schon Schmids Opa. Sie ist im Tal gelegen, es gibt reichlich Wasser und die meisten Äpfel sind alte Göppinger Sorten: Maunzen, Börtlinger und Haux Apfel, Zabergäu Renette, dazu Oberösterreicher Weinbirne und Gelbmöstler – fast alles Mostsorten, die die Familie für Saft und Brände verwendet – was nicht gebraucht wird an die Manufaktur Geiger geliefert.
Die beiden anderen Flächen hat Schmid von der Gemeinde Uhingen gepachtet. Dort wurden Ende der 70er, Anfang der 80er auf Initiative des Umweltbeauftragten Obstbäume angepflanzt. Unter den etwa 80 Bäumen sind Äpfel, Birnen, Zwetschgen, Mirabellen und Walnussbäume, eine breite Palette mit vielen alten Sorten. Nachdem der Umweltbeauftragte in den Ruhestand gegangen war, verkamen die Bäume, lediglich das Gras wurde noch gemäht und als Futter verwendet. 2008 und 2010 trugen die Bäume extrem gut und unter der Last brachen viele Äste ab. Schmid sah, wie die Bäume litten, und bot an, die Wiesen für eine Pfefferkornrente zu übernehmen.
Mit Schafhaltung ist Schmid seit seiner Kinderzeit vertraut, sein Opa hatte eine Schäferei auf der Alb.. Für Oliver Schmid lag die Unternutzung mit Schafen nahe und inzwischen gibt es eine kleine Herde mit 20 Mutterschafen und derzeit 15 Lämmern. Das Fleisch wird direkt vermarktet. Texel-Schafe sind für Weidehaltung gut geeignet, sie lammen auf der Wiese, werden dann aber für 10 Tage im Stall gehalten – dadurch können mögliche Probleme sehr schnell erkannt und beseitigt werden. Um gesund zu bleiben müssen Schafe geschoren werden, aber die Wolle ist ein Verlustgeschäft. Der Erlös deckt bestenfalls die Kosten für das Scheren. Nur die umliegenden Waldorf Schulen nehmen etwas Wolle ab, der Rest wird kompostiert.
Schmid gründete sein Baumpflegeunternehmen ‚Treelogie‘ 2010. Sein besonderes Interesse gilt dem Schnitt und der Pflege von Obstbäumen, aber diese Expertise ist seltener gefragt. Bei den meisten Aufträgen geht es um die Pflege von Parks und Straßenbäumen. Erst mit der ‚Wiederentdeckung‘ von Streuobst im Kreis Göppingen wegen der Schaffung von Ausgleichsflächen im Rahmen von ‚Stuttgart 21‘ gibt es auch etwas Nachfrage für den Schnitt von Obstbäumen.
Über den Beitritt zum WiesenObst e.V. musste Oliver Schmid nicht lange nachdenken. Ihm geht es dabei nicht nur um den Erhalt alter Obstbäume, sondern auch um Erfahrungsaustauch und praxisbezogene Arbeit. Seiner Meinung nach werden sich durch die Klimakrise zunehmend Probleme auf den Obstwiesen ergeben. Bereits jetzt offenkundig ist der Wassermangel. Schmid hofft, dass der WiesenObst e.V. einen Beitrag dazu leisten kann, die Resistenz des Ökosystems Streuobstwiese zu verbessern.
Bei Neupflanzungen müsse alles getan werden, damit der Baum gute Startbedingungen habe, sich schnell etablieren und Wurzeln bilden könne, sagt Schmid. Dadurch müsse auch in der Anfangsphase weniger gewässert werden. Gerade bei Hanglagen ist das Wässern oft schwierig oder unmöglich, weshalb weiterhin viele frisch gesetzte Bäume vertrocknen. Bäume pflanzen will gelernt sein. Und seit wir mehr über Bodenbiologie und die Funktion von Mykorrhizen wissen, gibt es gute Möglichkeiten das Umfeld des Baumes und damit das Ökosystem insgesamt positiv zu beeinflussen.
Zunehmend wichtig wird die Wahl der richtigen Obstbaumsorte für einen Standort. Welche Bedürfnisse hat ein Baum? Wieviel Wasser braucht er? Welche Temperaturen verträgt er? ‚Manche Bäume sind wärmetoleranter als andere‘, sagt Schmid, der immer häufiger negative Veränderungen beobachtet: mehr Krebserkrankungen bei Gewürzluiken oder Grünastbruch weil Wasser fehlt und der Zelldruck zu gering ist. Daraus ergeben sich konkrete Hinweise für die Wahl der Sorte. An einem Südhang sollte man keine Mostäpfel pflanzen, weil sie Trockenheit nicht vertragen, wenn sie überhaupt überleben bilden sie sehr viele Früchte die aber extrem klein bleiben. Birnen werden mit Wassermangel besser fertig, weil ihre Wurzeln tiefer reichen. Quitten sind ebenfalls gut geeignet.
Genau beobachten, Veränderungen registrieren, sich Zeit nehmen – ein bisschen Zen hilft auch bei der Baum- und Standortwahl. Und vielleicht wurzelt darin auch die Großzügigkeit, mit der Oliver Schmid Erfahrungen und Wissen weitergibt.