Das Leben von Lisa-Marie Funke und ihrem Mann, Stefan Klett, hätte auch einen ganz anderen Verlauf nehmen können. Beide könnten ihre Tage in einem klimatisierten Büro sitzend und gelegentlich in einem Labor stehend verbringen, in einem Job mit festen Arbeitszeiten und geregeltem Urlaubsanspruch.
Stattdessen sitzen wir regengeschützt unter dem Vordach des Bauernhauses auf dem Hof in Rudersberg den beide bewirtschaften. Im großen, zur Seite offenen Schafstall liegen nur noch wenige Mutterschafe, die sich beim Lammen deutlich länger Zeit lassen als ihre Kolleginnen. Die übrigen 220 Mutterschafe und ihre 300 Lämmer sind inzwischen auf einer der WiesenObst Wiesen unterwegs.
Kennengelernt haben sich Funke und Klett beim Geographie Studium in Tübingen. ‚Für mich war es das Traumstudium‘, sagt Klett, der schon mit 14 allein durch Europa trampte. Während des Studiums verbrachte er viel Zeit in afrikanischen Staaten. ‚Das war interessant und aufregend, aber mir wurde auch mit der Zeit klar, dass die klassische Form der Entwicklungshilfe oder Entwicklungszusammenarbeit den Menschen nicht hilft und dass ich damit nicht den Rest meines Lebens verbringen wollte‘. Ein mehrtägiger Sandsturm, den Klett während eines sechsmonatigen Aufenthaltes in Ghana und der Sahelzone erlebte, brachte Klarheit: ‚Ich wollte mit Bäumen arbeiten. Und ich wusste auf einmal, dass ich nicht ständig unterwegs sein, sondern sesshaft sein möchte‘.
Lisa Funke reiste nach dem Abi ein paar Monate nach Australien und Neuseeland und wollte eigentlich Ethnologie und Soziologie studieren, bis sie merkte, dass Geographie auch eine ‚physische‘ Seite hat, bei der es um Mathematik und Naturwissenschaft geht, Fächer die sie stets interessierten. ‚In der Geographie werden Natur und Mensch zusammen gedacht‘, sagt sie. Bodenkunde wurde zu ihrem Spezialgebiet, nachdem sie 2010 im Rahmen eines Forschungsprojekts nach China reiste, um Bodenproben in der Provinz Jiangxi zu sammeln und auszuwerten. Damit waren die Grundlagen für ihre Masterarbeit gelegt: die Untersuchung ober- und unterirdischer Biomasse auf permafrostbeeinflussten Böden auf dem Qinghai- Plateau in Tibet. Die Begegnung mit einem tibetischen Mönch und der nonverbale Austausch darüber, warum eine junge Frau aus Europa an einem Bergbach Erde aus Pflanzenwurzeln wäscht, gehört zu den unvergesslichen Eindrücken aus dieser Zeit.
Was jetzt – war die Frage, die sich nach dem Studium stellte. ‚Eigentlich muss man doch selber etwas machen‘, stellte Lisa fest. Stefan hatte inzwischen eine Ausbildung als Baumwart gemacht und überlegte, ob man vielleicht mit einem befreundeten Paar einen Bauernhof in Brandenburg übernehmen solle – bis Lisa Funke sich frage, was denn dann mit den Wiesen und den Hochstamm-Mostobstbäumen ihrer Familie in Zukunft passieren würde.
2013 zogen Funke und Klett nach Rudersberg und begannen nebenher die Streuobstwiesen zu pflegen, sowie eine Imkerei aufzubauen. Ihre 9 bis 5 Uhr Jobs behielten sie zunächst bei, denn es war schnell klar, dass man von Imkerei und Streuobst allein nicht leben kann. Als die Besitzer eines Biobauernhofs in einem Ortsteil von Rudersberg Hilfe beim Baumschnitt auf ihren Obstwiesen brauchten, bot Klett ihnen einen Baumschnittkurs an. Die Bezahlung: sechs trächtige Mutterschafe. Aus diesem Kontakt ergab sich bald eine enge Zusammenarbeit. Als der dort tätige Schäfer in den Ruhestand ging, wurde ein Nachfolger gebraucht. Klett gab seine Stelle als Umweltplaner auf und machte eine zweijährige Ausbildung zum Tierwirt/Schafhaltung im bayrischen Triesdorf. 2021 beschlossen die Hofbesitzer, Biolandwirte der ‚ersten Stunde‘, der Hof ist seit fast 30 Jahren biozertifiziert, sich aufs Altenteil zurückzuziehen. Funke und Klett haben Hof und Wiesen gepachtet und bewirtschaften inzwischen 100 ha Land, davon 70 ha Obstwiesen. 80% der Flächen liegen in einem FFH Naturschutzgebiet (FFH steht für Flora-Fauna-Habitat). Dass beim WiesenObst Verein lediglich 35 ha und knapp 900 Bäume gemeldet sind liegt daran, dass nur von dieser Fläche Obst geerntet wird. Manche der übrigen Wiesen sind so steil, dass dort nur Schafe unterwegs sind, die sich gern bedienen. Andere Flächen stehen nur zur Beweidung zur Verfügung, weil die Besitzer das Obst selbst nutzen.
Von November bis Januar ist Klett weiterhin als Schäfer mit seiner Herde unterwegs. Auf den Wiesen wächst nur wenig Gras und die Schafe müssen deshalb ständig auf neue Flächen geführt werden – Hütehaltung auf Winterweide nennt man das. Im Februar und März lammen die Schafe im Stall. Spätestens im April sind die Tiere – diesmal ohne ihren Hirten – auf einer Elektrozaun gesicherten Weiden unterwegs. Die Planung, wann die Schafe wo weiden, ist kompliziert, denn zwischen August und Oktober, etwa sechs Wochen vor der WiesenObst Ernte, dürfen sie an diesen Standorten nicht grasen.
Schon bevor Funke und Klett dem WiesenObst Verein beitraten waren sie entschlossen, die Qualitäten des Obsts für die Produktion von aromaintensiven Säften zu nutzen. ‚Wir wollten etwas Eigenes machen‘, sagt Funke, ‚wir sind über die Wiesen gelaufen, haben Äpfel probiert und diskutiert: was passt zusammen und was nicht‘. Sie engagierten einen Pomologen um die Äpfel korrekt bestimmen zu können. Dabei stellte sich heraus, dass manche Sorten so lokalspezifisch sind, dass auch der Wissenschaftler sie nicht benennen konnte.
Direktvermarktung ist jedoch gerade bei Saft eine schwierige Angelegenheit: die Mengen sind für die meisten Abfüller zu klein. Der sortenreine Saft aus eigenen Bittenfelder Äpfeln ist köstlich, aber die Kosten – für Abfüllung, 0,33l Flaschen und eigene Etiketten in geringer Stückzahl – sind hoch. Trotzdem ist der Saft als ‚Lokalmarke‘ bei Gemeinderatssitzungen, im Sportverein und bei Festen der Dorfgemeinschaft beliebt und gefragt.
Doch auch für Lisa Maria Funke und Stefan Klett hat der Tag nur 24 Stunden. Schafe, WiesenObst, Imkerei, Hühner, Pensionspferde, für Klett inzwischen zusätzliche Arbeit als Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL) Baden Württemberg, Funke mit Sitz im Gemeinderat und, seit die kleine Tochter zwei Jahre alt ist, wieder mit einer festen Teilzeitstelle beim Regionalentwicklung Schwäbischer Wald e.V. – dem Motto ‚eigentlich muss man doch selber etwas machen‘ sind beide mehr als treu geblieben.
Für viele Landwirte übersteigen tägliche Arbeit, Projekte und die Vielzahl der Ideen, wie man vieles noch nachhaltiger und umweltverträglicher gestalten könnte, Zeit- und Energiereserven. Vielleicht lassen sich über den WiesenObst Verein Synergien schaffen und im Austausch mit anderen das Leben ein wenig vereinfachen und erleichtern.
Fotos: Dr. Martin Kunz